Verwirrung in Zeit und Raum
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Dreidimensionaler Raum und eindimensionale Zeit - damit müssen wir zurechtkommen. Früher soll die Auswahl größer gewesen sein - sagen die Theoretischen Physiker.
Glosse
Als Kind war die Phantasie größer als die Wirklichkeit und wir konnten die Welt noch ganz anders sehen. Da wuchsen Äpfel in den Himmel und Rauch fiel nach unten - wir mussten uns nur auf den Kopf stellen. Oder die ersten Spiegelerlebnisse: Mit der rechten Hand winken und im Spiegel winken wir mit links zurück. Unerhört! Erst später brach die Wirklichkeit in die kindliche Phantasie ein und erklärte uns, dass der Spiegel nicht rechts und links vertauscht, sondern vorne und hinten. Schnöde Wirklichkeit! Heute ist das mit dem Vertauschen also ein wenig schwieriger: Auch wenn wir uns, ganz wörtlich, aufs Ohr legen, liegt der Baum nicht flach, ist der Himmel noch oben und der Horizont keine Vertikale - unser Kopf rechnet einfach blitzschnell um. Schließlich hat er gelernt, wie die Welt zu sein hat.
Wollen wir heute echte Tauscherlebnisse haben, müssen wir die Phantasie mit Technik beflügeln. Soll Vorher Nachher sein und Nachher Vorher, dann lassen wir den Film halt rückwärts laufen. Das ging schon zu Zelluloidzeiten ganz prima und heute in der digitalen Welt erst recht. Und es geht noch mehr: Das zeigt Werner Große, Mathematiker und Filmfachmann vom "IWF Wissen und Medien", heute in seinem Vortrag "Zeit kippen - Filmexperimente in Raum und Zeit". Wie sähe die Welt aus, vertauschten Raum und Zeit ihre Rollen? Die Wirklichkeit als Daumenkino - nur einmal anders herum aufgeschnitten. Surreale Welten sind hierbei garantiert.
Wer die Filmexperimente sehen möchte (was dringend empfohlen ist), kann sich, ohne Raum und Zeit zu vertauschen, darauf verlassen: heute, 19 Uhr, Aula der TU, Pockelsstraße 11.
(jes)
Fakten
Im Büro fleißig arbeiten und gleichzeitig faul am Strand liegen - wer hätte nicht schon davon geträumt, einmal zur selben Zeit an unterschiedlichen Orten zu sein. Doch leider lassen Raum und Zeit genau das nicht zu. Etwas ganz Ähnliches dagegen funktioniert wie selbstverständlich: Am selben Ort zu unterschiedlicher Zeit sein ist leicht - man denke nur an sein Bett und diverse Nächte. Könnte man nicht Raum in Zeit verwandeln und umgekehrt!
Diesem zunächst abwegig scheinenden Gedanken hat sich der Göttinger Medienwissenschaftler und Mathematiker Werner Große nun in einem Filmexperiment genähert. Er stellte die Frage, wie wohl eine Welt aussähe, in der man die Zeitachse wie eine Raumachse behandelt. Dazu digitalisierte er kurze Filmszenen, tauschte in einem Computer räumliche Bilddaten gegen zeitliche aus und war verblüfft. Was er als Ergebnis auf dem Bildschirm sah, waren surrealistisch anmutende Laufbilder, die tief in die raumzeitlichen Zusammenhänge blicken lassen.
Er zeigte die so generierten Szenen in Braunschweig medienwissenschaftlichen Studierenden an der Technischen Universität und der Hochschule für Bildende Künste, die fasziniert anfingen, sich eigene Szenen auszudenken und zu spekulieren, wie die wohl "zeitgekippt" aussehen würden. Was geschieht mit einer Kniebeuge und was mit einem Sprung durch den Raum? In was verwandelt sich eine Pirouette und was wird aus langsam bzw. schnell? Einige von ihnen hatten daraufhin während eines Praktikums im Göttinger Institut IWF Wissen und Medien die Gelegenheit, ihre Ideen selbst zu verfilmen und mit dem "Zeitkipp"-Programm zu wandeln. Trotz intensiven Nach- und vor allem Vordenkens blieb es immer wieder spannend, was der Computer - für 40 Sekunden Film benötigt ein schneller PC immerhin 50 Stunden Rechenzeit - schließlich ausspucken würde.
Inzwischen ist das Verfahren des "Zeitkippens" gut beschrieben und auch aus wissenschaftlicher Sicht intensiv durchleuchtet. Dabei hat sich herausgestellt, dass die ins Auge springende Bildersensation sehr wohl hintergründige Bedeutung hat. Hinter einer visuellen Ästhetik verbergen sich prinzipielle Fragen nach unserer sinnlichen wie geistigen Leistungsfähigkeit, wenn es darum geht, die raumzeitliche Realität zu erfassen.
(jes)