Von Königen und Scherbenhaufen
3200 Scherben -
setzt eine Restauratorin aus Erfurt derzeit zu Kirchenfenstern zusammen. Sie stammen aus dem Kloster Brunshausen und lagerten 40 Jahre in den Archiven des Braunschweigischen Landesmuseums.
Glosse
"Gebt, Götter, mir Geduld! Geduld tut not!", zürnt König Lear bei Shakespeare. Draußen stürmt's, er will zu seinen Töchtern, doch die undankbaren Weiber zieren sich. "Gebt, Götter mir Geduld!" wird auch Simone Schmid von der Fachhochschule Erfurt das eine oder andere Mal geseufzt haben. Nicht wegen ihrer Töchter, sondern angesichts des Scherbenhaufens, der seit Monaten auf ihrem Tisch liegt.
Aus 3200 Einzelteilen puzzelt die junge Wissenschaftlerin derzeit Kirchenfenster zusammen. Dreht grüne, rote und blaue Splitter, so lange, bis sie sich zu Engelsflügeln, Heiligenscheinen oder Tieren zusammenfügen. Das Glas stammt aus dem Kloster Brunshausen bei Bad Gandersheim. Vor rund 40 Jahren buddelten es Archäologen des Braunschweigischen Landesmuseums aus und verstauten den Fund erst einmal in Pappkartons.
"Ja, warum das denn?", werden Sie sich jetzt fragend an den Kopf greifen. Ganz einfach: Weil sich in historischen Magazinen die stummen Zeitzeugen erfahrungsgemäß bis unter die Decke stapeln. Da müssen Kirchenfenster aus dem Mittelalter schon mal warten. Glücklicherweise hat sich inzwischen ein Sponsor gefunden, der die Restaurierung unterstützt. Ab Mai können Teile der Fenster im Kloster bewundert werden.
Derweil puzzelt Simone Schmid weiter und bleibt hoffentlich standhafter als König Lear: Der stürmt bekanntlich am Ende in die Heide und schnappt über.
(leu)
Fakten
Wenn Historiker puzzeln
"Restaurierungen sind keine Ad-hoc-Arbeiten. Sie brauchen Zeit", sagt Dr. Gerd Biegel, Direktor des Braunschweigischen Landesmuseums. Als "Work in progress" sieht er auch das jüngste Projekt mit dem Kloster Brunshausen und der Fachhochschule Erfurt. Vor über 40 Jahren entdeckten Wissenschaftler des Museums zahlreiche Glasscherben rings um das ehemalige Damenstift. Aus Zeit- und Kostengründen lagerte man sie erst einmal im Archiv ein. "Natürlich haben die Archäologen die Bedeutung erkannt, aber bei der Masse des historischen Materials muss man sich schon mal entscheiden, ob man Kirchenfenster restauriert oder wichtigere Funde vorzieht", bedauert Wolf-Dieter Steinmetz, Oberkustos der Abteilung Ur- und Frühgeschichte des Landesmuseums.
Welche Bedeutung hat aber nun der gehobene Schatz aus 3200 Glassplittern? Experten datieren die Scherben auf das 12. bis 13. Jahrhundert. Sie stammen von den Vorgängerbauten des heutigen Klosters Brunshausen und müssen Zeitgenossen entzückt haben. "Die Fenster unserer Kirche waren bisher mit Tüchern verhängt, in Euren glücklicheren Zeiten aber strahlte die goldhaarige Sonne zum ersten Mal durch verschiedenfarbige Gläser von Gemälden auf den Fußboden", schwärmte Abt Gozbert von Tegernsee im 10. Jahrhundert. Die blauen, gelben und violetten Teile zeigen Ansätze von Blumenornamenten, von Gesichtern, von Händen, Füßen und Heiligenscheinen. Alle Verzierungen sind im so genannten Zackenstil, der ab dem 13. Jahrhundert schlagartig im Nordharz auftrat und bis dato nur in der Marktkirche von Goslar erhalten war.
Simone Schmidt von der Fachhochschule Erfurt fügt die Einzelteile derzeit im Rahmen einer Diplomarbeit zusammen. "Bei uns wäre eine Restaurierung nicht möglich gewesen, deswegen kam der Fund nach Erfurt, der einzigen deutschen Hochschule mit einem Studiengang für die Restaurierung von Glasmalerei", erklärt Wolf-Dieter Steinmetz.
Ab 20. Mai können erste wiederhergestellte Fragmente im Kloster Brunshausen bewundert werden. Das "Portal zur Geschichte" präsentiert sie dort zusammen mit kostbaren Textilien und Kultgegenständen der ehemaligen Äbtissinnen des Klosters. (leu)
Kontaktinformationen
Name: | Dr. h.c. Gerd Biegel, M.A. |
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Institution: | Braunschweigisches Landesmuseum |
Adresse: |
Burgplatz 1 38100 Braunschweig |
Telefon: | 0531/1215-2602 |
Fax: | 0531/1215-2607 |
WWW: | http://www.landesmuseum-bs.de |
E-Mail: |