Auch ein Genie kann sich irren
Brachistochrone
(brachistos: kürzeste, chronos: Zeit) ist eine Kurve, auf der eine Kugel in kürzester Zeit von einem Punkt zu einem tieferliegenden Punkt rollt.
Glosse
"Diese Kurve sieht aus, als wäre ein Huhn darüber gelaufen - ein Huhn mit nassen Füßen." Der Kommentar meines Mathelehrers zu meiner phantasiereichen Lösung einer Integralrechnung sollte wohl lustig sein. Die Benotung der Arbeit dagegen: humorlos. Wie beruhigend zu hören, dass auch ein Genie wie Isaac Newton (1643-1727) mal gepatzt hat. Als er sich daran setzte, optimale Schiffsformen zu berechnen, kam Newton zu dem Ergebnis: Optimal ist ein Schiffsrumpf dann, wenn der Bug stumpf ist.
"Skurril", sagt Prof. Dr. Thomas Sonar vom Institut Computational Mathematics der Technischen Universität Braunschweig. "Ein einfaches Experiment in einem Bach hätte gereicht, um den hohen Widerstand eines stumpfen Bugs im Vergleich zu einem spitz geformten Bug zu zeigen." Wo lag der Denkfehler? Newton nahm an, dass das Wasser aus Teilchen bestand, die in gleichem Abstand voneinander frei angeordnet sind. "Auf der Basis dieser Annahme ist sein Ergebnis richtig", erklärt Sonar, "aber die Annahme ist falsch. Wasser ist ein dichtes Kontinuum. Die ´Teilchen` sind eng beieinander. Die Annahme gilt nur für ´dünne` Medien, etwa für verdünntes Gas in den oberen Schichten der Atmosphäre."
Newtons Fauxpas war dennoch bahnbrechend. Sonar: "Es handelte sich um das erste komplett richtig durchgerechnete Problem einer neuen Klasse: der Variationsrechnung. Unter einer Menge von möglichen Kurven ist genau die eine zu berechnen, die bestimmte optimale Eigenschaften hat." Erstmals gelang es Leonhard Euler (1707-1783), aus den einzelnen Problemen der Variationsrechnung eine mathematische Theorie zu entwickeln. Mehr dazu zeigt die Euler-Ausstellung des Braunschweigischen Landesmuseums bis zum 1. Juli - sehr sehenswert, auch für Mathe-Verweigerer!
(gef)
Fakten
Schiffe mit kleinstem Widerstand
Der englische Mathematiker und Naturforscher Isaac Newton (1643-1727) gilt als Begründer der modernen Physik. "Weniger bekannt ist sein Fauxpas, der mit der Berechnung optimaler Schiffsformen zusammenhängt", erzählt Prof. Dr. Thomas Sonar vom Institut Computational Mathematics der Technischen Universität (TU) Braunschweig. 1685 machte sich Newton daran, Schiffsrümpfe zu berechnen, die dem Wasser den kleinsten Widerstand entgegensetzen. In seinem Buch Philosophiae Naturalis Principia Mathematica, erstmals veröffentlicht 1687, präsentiert er sein Ergebnis: Optimal ist ein Schiffsrumpf dann, wenn der Bug stumpf ist.
"Dieses Resultat ist skurril", sagt Sonar. "Gerade Newton, der bereits als Kind mit Drachen experimentierte, der Göpelwerke für Mäuse baute, Sonnenuhren konstruierte und mit seiner eigenen Sprungkraft experimentierte; gerade dieser geborene Experimentator scheint seinem so absurden theoretischen Ergebnis nicht misstraut zu haben. Dabei hätte ein einfaches Experiment in einem Bach gereicht, um den hohen Widerstand eines stumpfen Bugs im Vergleich zu einem spitz geformten Bug zu zeigen."
So widersinnig das Ergebnis ist, so genial waren Newtons Gedanken. Er nahm an, dass das Wasser aus Teilchen bestand, wobei diese Teilchen in gleichem Abstand voneinander frei angeordnet sind. "Auf der Basis dieser Annahme ist sein Ergebnis völlig richtig", erklärt der Mathematiker, "aber die Annahme ist falsch. Wasser ist ein dichtes Kontinuum. Die ´Teilchen` sind so eng beieinander, dass sie nicht unterschieden werden können. Die Annahme gilt nur für ´dünne` Medien, beispielsweise für verdünntes Gas in den oberen Schichten der Atmosphäre." Newtons Resultat besagt, dass ein stumpfer Gegenstand mit weniger Widerstand in die Atmosphäre eintreten kann als ein spitz geformter. "Und in der Tat", erläutert Sonar. "Sehen wir uns beispielsweise die Apollo-Raumkapseln oder das Space Shuttle an, so treten diese Flugkörper bei der Rückkehr zur Erde mit der stumpfen Seite zuerst in die Atmosphäre ein. Newtons Fauxpas wird also im zwanzigsten Jahrhundert in der Raumfahrt zur brauchbaren Theorie."
Sein "Fehltritt" sei dennoch auch zu seiner Zeit von enormer Bedeutung gewesen, so der TU-Professor: "Es handelte sich um das erste komplett richtig durchgerechnete Problem einer neuen Klasse: der Variationsrechnung. Diese beschäftigt sich mit der Frage, unter einer Menge von möglichen Kurven genau die eine zu berechnen, die bestimmte optimale Eigenschaften hat." Die Brüder Jakob (1665-1705) und Johann Bernoulli (1667-1748) griffen diese Fragestellung auf und erörterten weitere Probleme, zu denen sie Lösungen erarbeiteten. Mathematik-Experten bekannt ist zum Beispiel das Problem der Brachistochrone (brachistos: kürzeste, chronos: Zeit). "Gesucht ist diejenige Kurve, auf der eine Kugel in kürzester Zeit von einem Punkt zu einem tieferliegenden Punkt rollt", führt Sonar aus. "Die Lösung, die Brachistochrone, ist die Zykloide, eine so genannte Rollkurve."
Auch Newton löste das Problem der Brachistochrone, ebenso Gottfried Wilhelm Leibniz. Aber erst dem berühmtesten Schüler Johann Bernoullis, Leonhard Euler (1707-1783), war es vorbehalten, aus den einzelnen Problemen der Variationsrechnung eine mathematische Theorie zu entwickeln - dokumentiert in seinem Buch Methodus inveniendi lineas curvas maximi minimive proprietate gaudentes sive solutio problematis isoperimetrici latissimo sensu accepti (1744). Das Buch und ein Experiment zur Brachistochrone sind in der Euler-Ausstellung des Braunschweigischen Landesmuseums bis zum 1. Juli 2007 zu sehen.
"Die Variationsrechnung ist auch 300 Jahre nach Newton ein sehr aktives Gebiet der Mathematik", erzählt Sonar. "Heute beschäftigen sich die Experten mit der Suche nach Flächen oder Funktionen, die Knicke, Ecken und Kanten haben können. Schon zwei Seifenblasen, die aneinander kleben, verlangen nach moderner Variationsrechnung, denn sie bilden spannungsminimierende Oberflächen, die einen Knick haben. Die Variationsrechnung ist auch Grundlage der Finite-Elemente-Verfahren, mit denen Ingenieure Bauwerke berechnen und den Zusammenstoß und die Verformung von Autos simulieren." (gef)
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Name: | Prof. Dr. Thomas Sonar |
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