Ein Arzt für Bücher
Das kleinste Buch
im Bestand der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel misst 20 mal 18 Millimeter und heißt "Andenken der Gelehrten für das schöne Geschlecht" (um 1760).
Glosse
Im Urlaub kommt man ja zu nix. Nicht mal alle Romane habe ich geschafft. Zu Hause will der Wiedereinstieg in die Story irgendwie nicht gelingen. Ziellos blättere ich zwischen den Kapiteln hin und her, als plötzlich Sand aus den Seiten rieselt. Strandsand. Ein Andenken an den täglichen Lese-Marathon mit Meerblick. Schlagartig bin ich wieder urlaubsreif.
Sand im Buch? Heinrich Grau kann von ganz anderen Entdeckungen erzählen. Von Zeit zu Zeit fällt dem Restaurator von der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel sehr Skurriles entgegen, wenn er alte Bücher restauriert: Apfelkerne, Haare, Fingernägel und sogar kleine Stücke Bauschutt, so alt wie das Buch selbst. Das Gebrösel ist jetzt in einer Tüte archiviert, vielleicht weckt es mal das Interesse eines Historikers.
Grau ist so was wie ein Arzt für Bücher, die er selbst auch "meine Patienten" nennt. Nicht selten hält er kostbare Einbände in den Händen, etwa das kleinste Buch im Bestand der Bibliothek. Es misst 20 mal 18 Millimeter, heißt "Andenken der Gelehrten für das schöne Geschlecht" (um 1760) und porträtiert 14 bedeutende Dichter jener Zeit. Der Restaurator erzählt gerne von dem Kuriosum, das sich im Innern des Minibuches findet: ein sehr frühes Porträt Lessings, der mit falschem Vornamen vorgestellt wird: Gottfried statt Gotthold Ephraim. Darüber kann man locker hinweg sehen, muss man sogar. Denn das fragile Werk unterliegt aus konservatorischen Gründen besonderen Benutzungsbedingungen: In ihm darf nur selten und nur mit fachkundiger Hilfe geblättert werden.
(gef)
Fakten
Kastbarkeiten in der Restaurierungswerkstatt
"Die kleinste buchbinderische Sensation findet sich in diesem unscheinbaren Klappkästchen", sagt Heinrich Grau, Mitarbeiter im Restauratorenteam von Almuth Corbach, Leiterin der Arbeitsstelle Erhaltung und Restaurierung in der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel (HAB). Grau lüftet das Geheimnis: Zum Vorschein kommt das kleinste Buch im Bestand der Bibliothek. Es misst 20 mal 18 Millimeter, ist damit gerade mal so groß wie ein Daumennagel und hat den Titel "Andenken der Gelehrten für das schöne Geschlecht" (um 1760). Blättern dürfen die Benutzer in dem fragilen Werk freilich nicht ohne fachkundige Hilfe. So bleiben die 14 in Kupfer gestochenen Porträts bedeutender Dichter jener Zeit geschützt, doch der Restaurator erzählt gerne von dem Kuriosum, das sich im Innern des Minibuches findet: ein sehr frühes Porträt Lessings, der mit falschem Vornamen vorgestellt wird: Gottfried statt Gotthold Ephraim heißt es dort. Doch mehr als dieses Missgeschick faszinieren Grau die Details des winzigen Einbands: "Die Lagen sind geheftet mit Nadel und Faden, der Buchblock besitzt einen dreiseitigen Goldschnitt, die Pappdeckel sind mit roter Seide überzogen. Zudem wurde am Buch eine silberne Ganzmetallschließe montiert und ein passender Schuber gefertigt."
Grau hält nahezu täglich kostbare, historische Einbände aus den Beständen der HAB in seinen Händen. "Wir konservieren und restaurieren nicht nur Einbände aus unterschiedlichen Materialien wie Leder, Samt, Seide, Holz und Metall, sondern auch den Schriftträger aus Pergament und vor allem Papier, ebenso Portraitstiche, Flugblätter, Briefe und Karten aus den umfangreichen Sondersammlungen der Bibliothek ", erläutert der ausgebildete Restaurator, der im Zweitberuf Buchbindermeister ist. Zudem werden in den Werkstätten passgenaue Schutzbehältnisse gefertigt, Schließen rekonstruiert oder Ergänzungsmaterialien wie Leder, Pergament, Gewebe und Papier gefärbt. Entdecken die HAB-Mitarbeiter Feuchtigkeitsschäden, Schimmel- und Insektenbefall in den Büchern, sind Grau und seine Kolleginnen erste Ansprechpartner. "Dabei handelt es sich meist um alte Schäden. Die Klimakontrollen sind bei uns so streng, so dass derartige Schäden nur durch Neuankäufe ins Haus vorkommen." Jede Restaurierungsmaßnahme muss in einem Bericht ausführlich dokumentiert werden. "Manchmal ist es schon erstaunlich, was einem beim Ausbürsten eines alten Buches so entgegen fällt - Apfelkerne, Haare, Fingernägel und sogar kleine Stücke Bauschutt, der so alt wie das Buch ist", erzählt Diplom-Restauratorin Magdalena Weidringer von der HAB. Den Bauschutt hat sie in einer Tüte gesammelt, vielleicht weckt er mal das Interesse eines Historikers.
Von Zeit zu Zeit begleiten die Restauratoren besonders kostbare Objekte aus dem Bestand der Bibliothek auf Reisen. "Einige Werke sind auf Ausstellungen sehr gefragt, dürfen aber wegen ihres Erhaltungszustandes oder ihres Wertes nur von entsprechend ausgebildetem Fachpersonal gehandhabt werden", erzählt Grau. Vorher sind Beleuchtung und Raumklima zu prüfen; nur wenn die Werte stimmen, darf das Buch auf einer eigens angefertigten Buchwiege in dem Glasbehälter Platz nehmen.
Mit besonderer Sorgfalt wird auch eine weitere, exotische Kostbarkeit aus der Wolfenbütteler Bibliothek behandelt: eine Reisebeschreibung über Amsterdam aus dem Jahr 1664. "Der Einband", so Grau, "wurde gefertigt aus Schildpatt, das aus dem Panzer der Karettschildkröte stammt. Dass das Material für ein Buch verwendet wurde, war sicherlich eine barocke Modeerscheinung." Benutzen oder digitalisieren lässt sich der Band mit zahlreichen Klapptafeln kaum. "Er kann höchstens in einem Winkel von 40 Grad geöffnet werden, sonst würde das Material im Buchrücken brechen", erklärt der Restaurator. "Aber wir haben zum Glück in unserem Bestand ein zweites, stabileres Exemplar, in Pergament gebunden." (gef)
Kontaktinformationen
Name: | Dr. Anne Tilkorn |
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Institution: | Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel |
Adresse: |
Lessingplatz 1
38304 Wolfenbüttel |
Telefon: | 05331/808213 |
WWW: | http://www.hab.de |
E-Mail: |