Braunschweig trägt Lederhosen
Stereotypen
sind Zusammenfassungen von Eigenschaften oder Verhaltensweisen, die in der Regel genauso einprägsam wie klischeehaft sind. Welche Rolle Stereotypen in alten Lexika spielen, verrät ein Forschungsprojekt in der Wolfenbütteler Herzog August Bibliothek.
Glosse
Oh weh. Nichts anderes kommt einem in den Sinn, wenn wir Deutschen in der US-amerikanischen Serie "Die Simpsons" unseren großen Auftritt haben. In zünftigen Lederhosen und mit Gamsbart am Hut kommen wir daher, in der einen Hand die Weißwurst und in der anderen, na klar, die Maß Bier. Braunschweig liegt in Bayern? Aber sicher doch.
Nun ja, immerhin bekommen auch die Franzosen (mit Baskenmütze und Baguette) ihr Fett weg. Ganz zu schweigen von den Albanern (Spione!). Auch Ina Ulrike Paul kennt sich mit Vorurteilen bestens aus - forschungsbedingt. Sie untersucht in den Beständen der Wolfenbütteler Herzog August Bibliothek "Nationale Stereotypen in Enzyklopädien, Wörterbüchern und Konversationslexika Europas vom 17. bis zum frühen 19. Jahrhundert".
Saufende Germanen, hochnäsige Franzosen, mies kochende Engländer - in den alten Büchern kommen Stereotypen zum Vorschein, die auch heute noch in unseren Köpfen stecken. Müssen wir uns dafür schämen? Nein, sagt Ina Ulrike Paul. "Solange man Stereotypen nicht benutzt, um Feindschaften zu pflegen, sind sie nichts Schlimmes."
Gut zu wissen, dass es die Amerikaner gar nicht so böse mit uns Deutschen meinen. Und dass auch wir sie in unseren Comics als ein wenig, pardon: fettleibig (über-)zeichnen dürfen.
(boy)
Fakten
Das Forschungsprojekt "Alle Kreter lügen". Nationale Stereotypen in Enzyklopädien, Wörterbüchern und Konversationslexika Europas vom 17. bis zum frühen 19. Jahrhundert zielt auf die Analyse der spätestens seit Ende des 15. Jahrhunderts in Europa kursierenden nationalen Auto- und Heterostereotypen, also aus dem unerschöpflichen Fundus von literarischen, ethnographischen und historischen Bildern und Vorstellungen, die sich jede europäische Nation von sich selbst und von ihren Nachbarn machte.
Dieses Projekt wurde durch den Essay "Europäer" (1997) des österreichischen Literaturwissenschaftlers und Anglisten Franz K. Stanzel angeregt, danach in Seminaren an der Freien Universität Berlin weiterverfolgt und zugleich zu einem Projektantrag verdichtet, der von der Herzog August Bibliothek in Wolfenbüttel erstmals mit einem halbjährigen und dann mit einem vierteljährigen Forschungsstipendium gewürdigt wurde. Seit 2003 wird das Forschungsprojekt zudem von der Gerda Henkel Stiftung gefördert. Weitere Forschungsaufenthalte - soweit es die akademische Lehre in Berlin möglich machte - in Wolfenbüttel, Göttingen, Berlin, Emden, München etc. und an der British Library London folgten.
Als Quellenbasis der Untersuchung dienen die Enzyklopädien und Universallexika in den Landessprachen, die am Ende des 17. Jahrhunderts an die Stelle der allein für Gelehrte bestimmten enzyklopädischen Lexika in Latein traten und im 18. Jahrhundert als Lieblingsmedien der Aufklärung sowohl die gebildete Öffentlichkeit als auch den Büchermarkt beherrschten; und die Konversationslexika, die an der Wende zum 19. Jahrhundert den Enzyklopädien ihre führende Stellung abnahmen und die das "Gesprächswissen" der Gesellschaft zur Verfügung stellten.
Das Forschungsprojekt geht von zwei Prämissen aus: Erstens wird vorausgesetzt, dass jeder Mensch einen Vorrat an nationalen "(Vor-)Urteilen" hat - wie sonst verständen wir Karikaturen, in denen Lederhose oder Prinz-Heinrich-Mütze den Süden und Norden Deutschlands oder Baskenmütze/Baguette oder Stockschirm/Bowler Frankreich und England vertreten? Zweitens wird vorausgesetzt, dass diese Stereotypen eine Geschichte, einen Anfang haben, und dass dieser Anfang zumindest in die Epoche der Französischen Revolution zurückreichen müsste, als sich die europäischen Nationen ihrer selbst als Nationen bewusst wurden. Neuere historische Forschungen zum Nationalismus zeigten jedoch, dass wichtige Aspekte des nationalen Bewusstseins bereits in der Frühen Neuzeit von den Humanisten formuliert wurden, was die Einbeziehung des 16. und 17. Jahrhunderts in die Quellenforschung unerlässlich macht.
Im Ergebnis will die Untersuchung anhand bereits ausgewählter Lexikonartikel - die sich keineswegs auf die einschlägigen historisch-geographischen Lemmata zu den einzelnen europäischen Nationen beschränken, sondern literarische, linguistische, ethnographische und geschlechterspezifische Begriffe einschließlich der dort zitierten literarischen, historischen und ethnographischen "Autoritäten" einbeziehen - einen Beitrag zur Erklärung des Phänomens der vermeintlich eigentümlichen, tatsächlich fiktiven "Nationalcharaktere" leisten, die - ob Heiterkeit oder Ärgernis erregend - in ihrer Instrumentalisierbarkeit bis heute zum politischen Alltag Europas gehören. (boy)
Kontaktinformationen
Name: | Dr. Anne Tilkorn |
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Institution: | Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel |
Adresse: |
Lessingplatz 1
38304 Wolfenbüttel |
Telefon: | 05331/808213 |
WWW: | http://www.hab.de |
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